Der Syrienkonflikt – Zwischenbilanz und Lösungsoptionen
Vortrag von Dr. Raid Gharib, Diözesanratsvorsitzender der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien in Deutschland am 11. Juni 2014 um 19.00 Uhr, Ludwig-Maximilians-Universität München, Oettingenstr. 67
Kooperationsveranstaltung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN), Landesverband Bayern e.V. und des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen der LMU München.
Der Syrien-Krieg kostete bisher mindestens 160.000 Menschen das Leben. Unter der Zivilbevölkerung gibt es 2,9 Millionen Flüchtlinge und 6,5 Millionen Binnenvertriebene. Die humanitäre Katastrophe wird den gesamten arabischen Raum noch Jahrzehnte lang beschäftigen und droht zu einem regionalen Konflikt zu eskalieren. Regionale und internationale Interessen haben den Konflikt längst in einen Stellvertreterkrieg verwandelt.
Der syrischstämmige Politikwissenschaftler Dr. Raid Gharib, Diözesanratsvorsitzender der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien in Deutschland, kehrte soeben von einem Besuch aus dem umkämpften Syrien zurück und gab aktuelle Lageeinschätzungen. Die Regierung von Präsident Assad ist seiner Einschätzung nach wieder in der Offensive, da sie auf mindestens 10.000 Hisbollah-Kämpfer aus dem Libanon zählen kann. Auch habe die Regierung einen erfolgreichen Strategiewechsel vollzogen. Sie beschränke sich auf die Sicherung und Konsolidierung von Kerngebieten, während sie andere Gebiete sich selbst überlassen habe. Diese Atomisierung führe freilich zu problematischen Folgenwirkungen, wie das Erstarken des „Islamischen Staats im Irak und der Levante“ (ISIL) zeige.
Die Existenz ethischer/kultureller/religiöser Gruppen mit starker Eigenidentität in Syrien ist gemäß Dr. Gharib das Ergebnis historischer Prozesse. Angst präge heute das Klima, sei es von Seiten der Christen und Alawiten vor einer Machtübernahme militanter Sunniten wie von Seiten von Sunniten vor den Regierungskräften. Der Riss gehe aber auch mitten durch die Sunniten: Moderate, tendenziell städtische und regierungstreue Sunniten ständen gegen islamistisch beeinflusste, tendenziell ländliche und oppositionsnahe Sunniten. Leider würde im Zuge des eskalierenden Bürgerkriegs die Konfessionalisierung des Konflikts von den kämpfenden Parteien verschärft, um das eigene Lager zu konsolidieren. Damit würden die Gräben immer größer – nicht nur in Syrien, sondern auch in den Nachbarländern.
Dr. Gharib geht davon aus, dass der Krieg noch mindestens zwei bis drei Jahre anhalten wird. Eine externe „humanitäre Intervention“ sei unrealistisch. Wenn ein militärisches Eingreifen unter diesem Etikett doch erfolgen sollte, wäre es nicht wirklich humanitär: Denn die Eigeninteressen externer Mächte in Syrien seien zu groß.
Eine Lösung ohne Präsident Bashir al-Assad sei unrealistisch, da er von vielen Syrern als der Vertreter bedrängter Minderheiten gesehen werde. Mittelfristig könne eine stabile Friedensordnung nur dadurch erreicht werden, dass eine Nation gegründet werde, die allen Bürgern Schutz und Rechte biete, z.B. durch eine föderale Struktur oder eine Kantonisierung. Hierfür müsse aber erst wieder Vertrauen zwischen den Bevölkerungsgruppen aufgebaut werden. Eine territoriale „Entmischung“ werde durch die brutalen Kriegsereignisse schon tagtäglich vorangetrieben. Ein Zurück zum alten Syrien von vor 2011, wo Menschen unterschiedlicher Herkunft oder Konfession vielerorts nebeneinander lebten, sei wohl nicht mehr realistisch.
An den Vortrag schloss sich eine von Dr. Said AlDailami moderierte, lebhafte Diskussion an.